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Warum ich?

Und warum nicht?

 

Erzählperspektive: der Blickwinkel, aus dem erzählt wird. Zum Beispiel mit einem Erzähler in Ich-Form.

Erste Person (Singular): Ich-Form

 

 

Schwächen der Ich-Perspektive

 

„Also ich könnte das ja nicht, einen ganzen Roman mit Ich“, sagte einer meiner Mentoren einmal bei einem Textgespräch zu mir. Was er meinte, war: Die Ich-Perspektive limitiert uns als Schreibende enorm.

Es gibt so vieles, was das Ich nicht weiß, und was es deshalb auch nicht erzählen kann. Es ist beschränkt auf seinen Lebensraum, das, was es weiß und das, was es wahrnimmt. Es kann vermuten oder erfahren, was ein anderer denkt, nicht aber in ihn hineinschlüpfen. Es wird vermutlich nicht viel über seine Ahnen von vor zweihundert Jahren wissen und erst recht nicht plötzlich über die Ahnen eines spezifischen Azteken – ein allwissender Erzähler dagegen braucht keine Rechtfertigung, wenn er dergleichen weiß.

 

Das Ich ist auch angewiesen auf seine eigenen Worte. Sein Vokabular, sofern das Ich nicht gerade Sprachwissenschaftler mit Hang zu Dichtkunst und Sprachphänomenen ist, ist oft sehr begrenzt. Andernfalls wirkt es schnell unglaubwürdig. Ein Ich, das extrem genau und in zahlreichen sprachlichen Bildern erzählt, muss ein entsprechender Charakter sein. Ist das Ich ein aktiver, wenig gebildeter Mensch, der vor allem körperlich handelt, statt sich in Worten wohlzufühlen, muss seine Sprache dem entsprechen.

 

Der Ich-Erzähler braucht, mehr noch als jeder andere Erzähler, einen Anlass, etwas zu erzählen. Als Autor musst du das Ich geschwätzig und vielseitig interessiert machen, wenn es glaubwürdig einfach so drauflos fabulieren soll. Ein Ausweg sind Briefformen. Gerne lassen Autoren ihre Ich-Erzähler auch einen „Bericht“ zu einem Geschehen verfassen.

 

Natürlich musst du nicht immer eine so spezielle Form wählen. Es hilft dem Text aber sehr, wenn du weißt, in welcher Situation das erzählende Ich sich befindet und wer sein Adressat ist. Wem also erzählt es? Wendet es sich bewusst an einen Leser? Durchläuft es einen Gedankenstrom, ganz für sich? Jedenfalls ist es kein gottgleiches Wesen, das irgendwie so aus dem Off heraus erzählt. Und welches Ziel hat es? Will es sich rechtfertigen? Ein Geschehen verstehen und verarbeiten? Seine Leser mit Witz unterhalten?

 

Ein weiteres Problem der Ich-Perspektive ist die Schwierigkeit, die Distanz zu verändern, die das Ich zum Geschehen einnimmt, wie es zum Beispiel in der dritten Person möglich ist - als Erzähler noch näher an meinen Protagonisten heranzurücken, sich dann wieder zu entfernen, womöglich innerhalb weniger Sätze.

 

Die Ich-Perspektive hat also zahlreiche Nachteile.

 

 

Stärken der Ich-Perspektive

 

Sie hat ebenso unleugbare Vorteile. Der erste: Sie scheint handwerklich oft einfacher durchzuführen als andere Perspektiven. Mancher Schreibende fühlt sich wohler, wenn er oder sie nicht ständig über Perspektivfragen nachdenken muss, über zum Beispiel die Distanz des Erzählers zu den Dingen. Die Ich-Perspektive scheint da oft einfacher zu handhaben als die dritte Person. Ich sage „sie scheint“ und ich sage auch „sie ist es in mancher Hinsicht tatsächlich“. Einem eher ungeübten Schreiber kann sie Halt und Sicherheit vermitteln.

 

Natürlich ist die erste Person nicht nur etwas für ungeübte Schreiber. Herta Müller, sicher kein literarisches Leichtgewicht, hat einen anderen Grund für das Ich. Manchmal habe sie selbst keine Lust mehr auf das Ich, sagt sie. Aber da sie immer wieder merke, wie der Text durch ein „Ich“ gleich viel sinnlicher werde, kehre sie doch immer wieder zu ihm zurück.

 

Das Ich bietet also dem Leser einen direkteren Zugang zum Protagonisten - und damit zugleich zum Text. Ob wir es wollen oder nicht, sobald ein Text „ich“ sagt, beginnen wir, uns mit diesem Ich zu identifizieren. Es fällt uns viel schwerer, uns von einem Ich-Erzähler zu distanzieren als von einem der dritten Person. So können wir übrigens mit der Ich-Perspektive den Leser auch dazu verführen, sich auf einen unsympathischen Protagonisten einzulassen. Als Leser sehen wir schneller die menschliche Seite in ihm. Wir sind eher bereit, uns auf seine Sicht der Dinge einzulassen.

 

Ein weiterer Vorteil der Ich-Perspektive kann sein, dass wir besser wissen, was zu unserer Geschichte gehört. Unter Umständen macht es uns die Entscheidung leichter, ob der Flug dieses Bussards in diesen Text gehört, oder ob es nur etwas ist, was wir auch noch ganz interessant oder schön zu erzählen fänden. Hierbei kommt es allerdings auf die Persönlichkeit des Schreibenden und die Textart an! Die Ich-Perspektive kann nämlich gerade beim autobiographischen Schreiben natürlich auch dazu verleiten, Dinge aus unserem Leben zu erzählen, die für uns eine Bedeutung haben, im engeren Sinn aber nichts mit der eigentlichen Geschichte zu tun haben...

 

Was die erste Person auf jeden Fall leisten kann: Wir werden schneller persönlich und erzählen authentischer. Statt eine Geschichte von außen zu betrachten, gehen wir eher auf die Gefühle des Protagonisten ein, und kommen oft auch besser an unsere eigenen Gefühle heran. Ob das für unseren Text der beste Ansatz ist, müssen wir dann selbst entscheiden.

 

Wenn du dir unsicher bist, welche Perspektive die richtige für deinen Text ist, ist dieser beliebte Tipp immer noch eine gute Idee: Probier an einer Passage von ein bis zwei Seiten aus, wie dein Text in verschiedenen Perspektiven klingt. Was verändert sich, wenn du die Perspektive wechselst? Was müsste der Erzähler jetzt eigentlich noch sagen? Was erscheint plötzlich überflüssig?

 

Dabei können sich an unterschiedlichen Passagen unterschiedliche Probleme auftun. Was das Problem einer Textstelle löst, führt vielleicht an einer anderen zu einem neuen. Frag dich: Was ist für mich wirklich das Wichtigste an meinem Text, meine größte Priorität? Mit welcher Perspektive kann ich dieser Priorität am besten gerecht werden?

 

Keine Perspektive kann alles. Aber entscheide dich für die beste für deinen Text! (Na gut, manchmal gibt es nicht die beste Perspektive, sondern nur Möglichkeiten, so wie Strand auf Bali und Wandern in Österreich. Dann musst du dich einfach entscheiden, was du mehr möchtest.)

 

 

Gefahren der Ich-Perspektive:

  • Der Ich-Erzähler fällt aus der Rolle, benutzt Sprache, die nicht ihm gehört.

  • Dem Ich-Erzähler fehlt ein Anlass und ein Adressat. Er erzählt uns Dinge, die ihm selbst klar sein müssten. Er hat zwar keinen Anlass, über sie nachzudenken, sie müssen den Lesern aber vermittelt werden, um den Text zu verstehen. (Das ist ein wirklich großes Problem der Ich-Perspektive!) Manchmal schwankt er auch zwischen einer Erzählung, die an einen Leser oder Zuhörer gerichtet zu sein scheint, und Gedanken, die er sich ganz für sich macht. Das wirkt auf den Leser irritierend.

  • Der Ich-Erzähler wird besserwisserisch oder stark wertend, obwohl das nicht seinem Charakter entspricht.

  • Wir schreiben einen zu passiven Text, der fast nur aus Gedanken und Wahrnehmungen besteht, in dem „nichts passiert“.

  • Wir glauben, nur weil wir einen Ich-Erzähler haben, sei der Leser bereit, ihm alles durchgehen zu lassen. Ja, es ist eine Möglichkeit, einen unsympathischen Charakter nachvollziehbarer zu machen. Aber ein extremer Macho, ein Rassist, ein Pädophiler etc. muss auch als Ich-Erzähler Anstrengungen unternehmen, damit der Leser mit ihm mitgeht.

  • (seltener:) Aus Angst, der Leser könnte uns und den Erzähler verwechseln, bemühen wir uns als Schreibende zwanghaft, uns vom Ich-Erzähler abzusetzen. Oder: Beim Schreiben in der Ich-Form vergessen wir selbst, dass wir nicht gleich dem Ich sind, und erzählen Dinge, die zu uns, nicht aber zum Ich-Erzähler gehören.

 

Möglichkeiten der Ich-Perspektive:

  • Wir haben die Möglichkeit einer ausgeprägten Rollenprosa, nicht nur in den Dialogen. Rollenprosa heißt: Die Sprache des Erzählers ist erkennbar durch sein Milieu, sein Alter, seine Bildung etc. geprägt, und unterscheidet sich klar von einer allgemeinen, normierten Schriftsprache. Mit dem „Ich“ gewinnen wir die Möglichkeit einer sehr mündlichen Sprache mit vielen Idiomen und umgangssprachlichen Ausdrücken.

  • Durch einen Ich-Erzähler können wir viel leichter eine Menge Gefühle, Gedanken und Wahrnehmungen erzählen. In dritter Person wirkt das oft unbeholfen und schwerfällig.

  • Die, auch subtile, Veränderung einer Hauptfigur können wir so oft eindrücklicher zeigen.

  • Wir können eine eingeschränkte oder vorurteilsbeladene Erzählung schreiben, auf die sich der Leser trotzdem einlässt.

  • Wenn wir einen unzuverlässigen Erzähler wollen, lässt sich das in der Ich-Perspektive leichter bewältigen und der Leser ist weniger irritiert.

  • In einem episodischen Text haben wir die Möglichkeit mehrerer Ich-Erzähler. Das kann für den Leser sehr verwirrend werden. Wenn jeder Ich-Erzähler aber seine jeweils ausgeprägte eigene Sprache hat, können wir dem Leser auf diese Weise auch mehrere Hauptfiguren sehr nahe bringen.

 

Ob Ich oder nicht-Ich - das musst du selbst entscheiden. Ich hoffe, dass ich hier einige Punkte genannt habe, die dir bei deiner Entscheidung helfen können.

Viel Spaß beim Schreiben!