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30 Bücher zum Lieben

 

Es ist eine Sache, über gute Bücher zu sprechen, eine andere, über die zu sprechen, die man liebt.

Hier sind 30 kurze Appetitmacher für Bücher, die mich hingerissen haben. Die Liste ist vollkommen persönlich und in keiner Weise vollständig.

Die Reihenfolge folgt dem ABC der Autoren. Alle Titel habe ich auf deutsch angegeben. Wer mag, kann natürlich auch das Original lesen.

 

 

1) Jane Austen, Emma

Eine Einundzwanzigjährige, die meint, alles zu wissen. Ein Mann, der scheinbar alles weiß. Ein weiteres Mädchen, das scheinbar nichts weiß und ein Vater, der ganz sicher nicht viel weiß. Und London, das weit entfernt ist.

Austen beherrscht die aristotelische Dramentheorie besser als jeder Professor. Ihre Figuren sind ironisch überzeichnet, ihr Schauplatz sehr begrenzt. Aber in diesem Buch passt alles. Es ist meiner Meinung nach der vollkommenste Roman einer herausragenden Autorin, in allen Details so perfekt ausgearbeitet, dass er ganz leicht und schlicht wirkt.

 

2) Lucia Berlin, Was ich sonst noch verpasst habe

Ein Opa, der Zähne zieht. Krankenhäuser, Missbrauch, Alkohol, Verwahrlosung, Religion und Liebe.

Gibt es eine brillantere Schriftstellerin als Berlin? Oft typische Frauenthemen behandelnd, schreibt sie kein einziges Klischee, sondern extrem originell, extrem handfest, mit Energie, Schonungslosigkeit und ungeheurer Einfühlsamkeit. Ein Buch für beinahe jedermann.

 

3) Roberto Bolaño, Stern in der Ferne

Militärdiktatur, Flieger, Schreibwerkstätten. Ein Schwimmer, dem Gliedmaßen fehlen, eine Gesellschaft, der Menschlichkeit fehlt. Ein Museum im Camp Nou.

Irritierend, keinem neoliberalen Plotmodell folgend, schlicht und eigentümlich zugleich. Bolaños 2066 wurde ein Bestseller. „Stern in der Ferne“ dagegen ist bei uns wenig bekannt, aber unbedingt lesenswert.

 

4) Italo Calvino, Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Ein Leser, Bindefehler, eine Leserin, eine Menge Anfänge und Literaturtheorie.

Wie fängt man einen Roman an? Und wie bedingt der Anfang die Geschichte? Schade, dass Calvino all diese Bücher nicht fortgeschrieben hat, denn jeder Beginn, gleich ob Schundkrimi oder erotischer Liebesroman, hat mich gefesselt.

 

5) Truman Capote, Andere Stimmen, andere Räume

Ein fast verlassenes Haus in der Provinz, Schwüle, ein Junge, ein Onkel. Das Erwachen einer Identität.

Eine Coming-of-Age-Geschichte in der Atmosphäre von Vergangenem und Geistern. Als Capote-Liebhaber mag ich diese oft vergessene Geschichte von seinen Werken am liebsten, vielleicht, weil hier mehr Persönliches hineindringt, als geformt werden konnte.

 

6) J.M. Coetzee, Die Kindheit Jesu

Neuankömmlinge in einem fremden Land, der Hafen, eine Geldschatulle. Eine Mutter und eine zweite Mutter. Eine verstopfte Toilette. Ein Mann, der einen Jungen unterrichtet und ein Junge, der einen Mann unterrichtet.

Ein Gleichnis, als Roman, über das, was wir zum Leben brauchen. Und darüber dass das, wenn alle physischen Bedürfnisse erfüllt sind, mehr ist. Arbeitet manchmal mit ein paar Taschenspielertricks, um uns als Leser zu fesseln, aber Coetzee verzeihe ich das absolut.

 

7) Cristina Comencini, Erst in der Nacht

Mann, Frau, Hilflosigkeit, ein kleines Kind, Berge und der Wunsch nach Sex.

Die Grundanlage besteht aus zwei Polen: Ein etwas grober, frauenfeindlicher Mann aus den Bergen, eine blasse, schmächtige Frau aus der Stadt. Abwechselnd kommen sie zu Wort. Die Gefahr baut sich schnell auf, Comencini übergießt nichts mit Zucker. Tatsächlich lässt sie zu, dass zwei Menschen aufeinander treffen, die nichts gemeinsam haben außer ihrer Versehrtheit. Ein beliebtes Motiv für Liebesgeschichten, das Comencini deutlich und trotzdem atmosphärisch stark bearbeitet hat.

 

8) David Cook, Der Zweitbeste

Ein Postbeamter, ein Junge, ein Vater, ein Soldat. Eine warmherzige Frau vom Amt.

Anrührende Geschichte eines Enddreißigers, der einen Jungen adoptieren will. Ein Buch über Einsamkeit, Lebenslügen und die Fähigkeit, Beziehungen aufzubauen.

 

9) Julio Cortázar, Bestiarium

Die Hand eines Boxers, alte Damen beim Tee, ein Löwe im Haus.

Klassiker des vielleicht besten argentinischen Schriftstellers. Surrealistische Erzählungen in realistischer, schlichter Sprache, die der Atmosphäre der Orte genügend Raum lässt.

 

10) Hilde Domin, Sämtliche Gedichte

Eine Taube, ein Zikkurat, ein Teller, eine Rose.

Einfache, einfühlsame Gedichte, oft über Liebe, bisweilen über Schuld. Offen, warmherzig und zart.

 

11) F. Scott Fitzgerald, Der große Gatsby

Reiche Leute, teure Villen, Liebesaffären und ein Autounfall.

Eine faszinierende Erzählperspektive, ein Protagonist, der ergründet werden will. Eine Geschichte voller (vergeblicher) Hoffnungen und Projektionen. Ein sorgsam gearbeiteter Plot und manche Schludrigkeit im Detail. Macht: eine der ikonischsten Geschichten des 20. Jahrhunderts.

 

12) Emily Friedlund, Eine Geschichte der Wölfe

Christian Science, ein vierzehnjähriges Mädchen, ein toter Junge. Eine ehemalige Hippie-Kommune in nordamerikanischen Wäldern. Wölfe.

Das Buch, das ich gerne geschrieben hätte. Eine Geschichte über Verantwortung, Vertrauen, die Sehnsucht nach Liebe und Schuld, die wir auf uns laden. Friedlund kann einfach alles: einen spannenden Plot entwerfen, ein Buch strukturieren, Figuren entwickeln, recherchieren, Dialoge schreiben, Räume eröffnen und vor allem: Sie beherrscht ihre Sprache. So wird sie ihrem komplexen Thema vollkommen gerecht.

 

13) Paul Gallico, Kleine Mouche

Eine junge Frau und sieben Puppen. Ein Puppenspieler, ein senegalesischer Freund, ein narzisstischer Artist. Ohne Scheu vor Kitsch hat Gallico es geschafft, eine Erzählung zu schreiben, die mich mit ihrer Offenheit zum Weinen gebracht hat. Sehr kurz und sehr wunderbar.

 

14) Arno Geiger, Der alte König in seinem Exil

Ein Vater, der zu Hause sein will und nicht kann. Menschen, die sich kümmern und wenig verstehen.

Wenn es nur ein Buch über die Demenz eines Elternteils gäbe, dann sollte es dieses sein. Die Biographie eines anderen für sein Buch zu nutzen ist immer eine heikle Sache, aber Geiger macht alles richtig.

 

15) Winston Graham, Marnie

Eine Kleptomanin, Identitäten, Pläne. Ein Ehemann, den man nicht haben möchte, ein Pferd, eine Mutter.

Bekannter als das Buch ist die Verfilmung geworden. Aus heutiger Sicht sind beide trotz ihrer erheblichen Unterschiede umstritten, der Film mehr noch als das Buch. In jedem Fall empfehle ich den Roman als spannende Lektüre. Er ist ein Beispiel für die stark psychoanalytisch beeinflussten Thriller der fünfziger und sechziger Jahre, auf die Hitchcock sich oft stützte. Sprachlich einfach entwickelt der Text Sog und Suggestionskraft und kann sich dabei insbesondere auf eine faszinierende Hauptfigur verlassen.

 

16) Ernest Hemingway, Der alte Mann und das Meer

Ein alter Mann. Das Meer. Ein Fisch, ein Boot, ein Junge.

Den Titel fand ich als Kind unglaublich öde. Scheinbar eines dieser Bücher, von denen alle sprechen, und die längst verstaubt sind. Was ein Wunder sich dahinter verbirgt.

 

17) Felicitas Hoppe, Johanna

Mützen, Peitsche, Johanna von Orléans. Hunde, Verrat, eine Doktorarbeit.

Eine Geschichte über Angst und Mut. Was heißt hier Geschichte - ein Sprachwerk, das seinen Zauber entwickelt, verwundert und begeistert. Ein Füllen von Lücken mit Phantasie und Sätzen, das der Wahrheit mit Sicherheit näher kommt als jeder historische Roman es könnte.

 

18) Kazuo Ishiguro, Was vom Tage übrig blieb

Ein Butler. Menschen, die Entscheidungen treffen. Menschen, die glauben, sie könnten sich heraushalten. Eine Haushälterin, ein alternder Vater, und eine Reise, die spät kommt.

Wer nur den ohnehin schon großartigen Film kennt, sollte unbedingt noch das Buch lesen, das der Hauptgrund für Ishiguros Nobelpreis ist. Wie Liebesgeschichte und Politik in der Figur eines Butlers zusammenfinden, ist handwerklich meisterhaft gemacht und klingt nach.

 

19) Ryszard Kapuściński, Der Fußballkrieg

Ein polnischer Reporter, Diktatoren, Politiker, Krieg, Hitze und Armut.

Der Autor ist umstritten. Ziemlich sicher hat er einige der Personen, die er angeblich getroffen hat, nie persönlich gesehen. Seine „Berichte“ sind literarisch stark aufgearbeitet. Sieht man sie, zumal mit zeitlichem Abstand, nicht als absolut authentische Zeugenschaft, kann man sie als das anerkennen, was sie sind: literarisch meisterhafte Aufarbeitungen von Geschehnissen und Entwicklungen, differenzierte und doch sehr eindrückliche psychologische Erkundungen.

Es ist keine Frage, dass Kapuściński trotz seiner Erfindungen tatsächlich viel gesehen hat, und seine Beobachtungen gehen tiefer als die kommunistische Propaganda, die von ihm erwartet wurde.

 

20) Hiromi Kawakami, Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß

Batterien und Pilze, ein älterer Mann und eine Frau in mittleren Jahren. Japan. Jede Menge Häppchen und Gespräche über Baseball.

Einer der schönsten Liebesromane. Leicht und inhaltsarm entwickelt diese Geschichte mit Sinn für die Bedeutung der kleinen Dinge und Alltagsworte eine große Wucht.

 

21) Tim Krabbé, Das Rennen

Ein Radrennen im Süden Frankreichs in den Siebzigern. Ritzel. Übersetzungen, voranschreitende Kilometer. Jede Menge Mythen und ein Gewinner.

Das beste Sportbuch, das ich kenne, auf keinen Fall nur für Radsportfans. Vor allem: während andere Geschichten nur so tun, als ginge es um Sport, obwohl sie tatsächlich Liebesgeschichten oder Krimis sind, erfasst Krabbé wirklich die Faszination eines Radrennens.

 

22) Milan Kundera, Die Unwissenheit

Ein Ohr, Emigranten, unvollendete Beziehungen.

Kaum ein Autor hat mich so beeinflusst wie Kundera mit seiner wenig sinnlichen und doch ungeheuer greifbaren Sprache. Rücksicht auf unsere Befindlichkeiten kennt er nicht, wenn er seine Figuren in existentiellen Nöten findet und belässt. Trotzdem ist da immer ein Hunger auf Leben, der die Verzweiflung erst so groß macht, und der mich Kunderas Bücher für eine Weile in meinem Leben hat verschlingen lassen.

 

23) Margaret Mitchell, Vom Winde verweht

Südstaaten, Nordstaaten, Selbstüberschätzung und Ignoranz. Eine leidenschaftliche Lust aufs Leben und Stolz.

Für mich ist Scarlett O'Hara einer der besten Figuren der Weltliteratur. Auch wenn der Roman heute in seinen gesellschaftlichen Ansichten überholt ist, trägt sie in all ihrer Stärke und Schwäche diesen dicken Wälzer durch viele, viele Seiten Beschreibung des amerikanischen Bürgerkriegs hindurch.

(Es gibt eine aktuellere, sehr modernisierte Übersetzung: „Vom Wind verweht“.)

 

24) Terézia Mora, Nicht sterben

Worte, Anfänge, Arbeit, Strenge, eine Tochter.

Moras Frankfurter Poetikvorlesung in schriftlicher Form ist das lesenswerteste Buch über den Prozess des Schreibens, das ich kenne. Gestochen präzise, hochpoetisch, trotz Moras gewohnter Distanz zugleich extrem persönlich und eigen.

 

25) Herta Müller, Atemschaukel

Ein Lager, Beton, eine Pappelallee. Hunger. Läuse. Der Verlust von Zivilisation, Überleben und Tod. Überwachung.

Was ist Zivilisation? Müllers Meisterwerk: Ein Roman in der Sprache einer Dichterin. Aus Wörtern wird Material, aus Material werden Wörter. Sprachästhetik nicht als Selbstzweck, sondern um an den Kern der Dinge zu gelangen.

 

26) Herta Müller, Vater telefoniert mit den Fliegen

Die ständige Anwesenheit von Angst und Verfolgung, Kraniche, Knöpfe, Federn und Bäume.

Herta Müller sammelt Wörter und sie macht daraus etwas Großes. Das, was wir so schwer mit Worten zu greifen scheinen: Angst, Unsicherheit, Grausamkeit, Lebenslust und Schönheit, sie fängt es für uns ein.

 

27) Antoine de Saint-Exupéry, Nachtflug

Ein Postflieger, ein Gewitter, eine ethische Frage.

Ein kurzer, abenteuerlicher Heldenroman aus der Frühphase der professionellen Fliegerei. Wer mit Saint-Exupéry nur den kleinen Prinzen verbindet, findet in diesem Buch einen nüchterneren, realistischen Autoren, der auch hier Faszination zu erzeugen weiß.

 

28) Maarten t'Hart, Die Jakobsleiter

Ein toter Junge, ein lebendiger Junge, Schuldgefühle und ein Ausweg.

Ein Buch wie ein flämisches Gemälde aus dem siebzehnten Jahrhundert. Glänzendes Schwarz, warmes Grau, klares Weiß. So sieht auch der Umschlag dieses Romans aus. T'Hart ist der Sohn eines Totengräbers und man ist nicht überrascht. So calvinistisch wie atheistisch.

 

29) Delphine Vigan, Das Lächeln meiner Mutter

Eine Familie voller Grausamkeit. Töchter, die sich nach Liebe sehnen und der Grausamkeit zu entkommen versuchen.

Der Originaltitel ist um Längen besser: Rien ne s'oppose á la nuit. Obwohl sie eine Art Familiengeschichte erzählt, stellt Delphine Vigan hier ihre bipolare Mutter komplett in den Mittelpunkt. Unter den biographischen Romanen herausstechend, setzt dieses Buch dem Leser Klöße in den Hals.

 

30) Virginia Woolf, Die Wellen

Sechs Kinder, die erwachsen werden. Ein Toter in Indien. Das Meer, Wellen, Wurzeln, Eifersucht, Älterwerden, Sterben.

Der Lauf eines Tages umfasst den Ablauf des Lebens. Für mich ist weder „Mrs Dalloway“ noch „Zum Leuchtturm“ der beste Roman Woolfs, sondern dieser, zugegeben bisweilen altmodische und jedenfalls zunehmend ins Depressive abdriftende. Bisweilen sprachlich überwältigend charakterisieren eine Vielzahl von Details die sechs Stimmen, die zu einer zusammenwachsen – oder aus einer entstehen.

(Auch hier gibt es eine etwas modernisierte Übersetzung, von Bosse-Sporleder, die sich ein wenig anders liest.)