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Schreiben in Corona-Zeiten

 

 

Schreiben - ohne zu wissen, was kommt

 

Viele von uns haben in den letzten Wochen plötzlich viel mehr Zeit, halten sich deutlich länger zu Hause auf als sonst, suchen händeringend nach Möglichkeiten, sich zu beschäftigen – ist Schreiben da nicht ideal geeignet?

 

Aber gerade jetzt gibt es für viele, auch für mich, einige Hindernisse, die vom Schreiben abhalten.

Zum einen ist eine langwierige Panik in viele von uns hineingekrochen, Angst vor gesundheitlichen oder wirtschaftlichen Folgen, die unsere Kreativität hemmt. Unser Denken verengt sich. Die offene Wahrnehmung, die wir brauchen, um kreativ zu sein, die Bereitschaft für Neues, Absurdes, Ungeübtes, nimmt ab.

Auch erleben wir durch die soziale oder physische Distanzierung weniger Reize und Kontakte, die in anderen Zeiten unsere Kreativität anregen. Die Stimulation durch überraschende Begegnungen, körperlichen Kontakt, neue Räume oder Reisen fehlt uns jetzt vielleicht.

Für manche stimmt die Sache mit der Zeit und den Möglichkeiten zur Konzentration auch überhaupt nicht. Sie müssen mehr arbeiten als sonst oder sich zusätzlich zum Home-Office noch um kleine Kinder oder hilfsbedürftige Angehörige und Freunde kümmern.

 

In jedem Fall befinden wir uns alle gerade in irgendeiner Art emotionaler Veränderung, die bei dem einen kleiner, dem anderen größer ausfällt. Unser Alltag verändert sich, worauf wir schauen, ändert sich.

Wie können wir schreibend damit umgehen?

In kleinen Formen, die das unmittelbar noch Wahrnehmbare behandeln, unsere Zimmerpflanze zum Beispiel?

Oder ist jetzt doch die Zeit, um endlich in Ruhe ein längeres Projekt zu bearbeiten?

Mancher kann sich tatsächlich sehr gut einigeln, und ein Projekt, mit dem er gedanklich bereits weit vorangekommen ist, nun konzentriert ausführen.

 

Für mich ist der entscheidende Punkt beim Schreiben in diesen Zeiten die Frage nach der Haltung. Einen guten Text zu verfassen, zumal einen längeren, zusammenhängenden, erfordert eine Einstellung zu den Dingen. Aber wie kann ich diese besitzen, wenn ich keinen Überblick über die Situation habe? Wenn ich einem ständigen „das weiß man noch nicht“ und einem „wir wissen nicht, was kommt“ ausgesetzt bin? Wenn mir erkennbar Daten und Wissen fehlen, um eine Situation einzuschätzen, wenn schon Experten überfordert sind und ihre Unkenntnis eingestehen müssen? Wenn mir das Wissen über die Zukunft fehlt – wie kann ich mir da eine Zukunft vorstellen? Ein klares Bild entwickeln? Und wenn ich mir die Zukunft nicht vorstellen kann – wie kann ich überhaupt eine Position einnehmen?

 

Für mich ist gerade besonders schwierig, dass ich das Gefühl habe, in meinen Texten nur die Vergangenheit zu beschreiben. All meine Texte scheinen plötzlich „rückwärtsgewandt“. Das gewisse utopische oder dystopische Potential, das in jeder Geschichte sitzt, und sei es noch so klein, scheint ausgehebelt. Meine Geschichten sollen auch in einem halben oder einem Jahr noch „gültig“, „aktuell“ sein. Das ist sowieso immer problematisch. Aber jetzt erscheint es mir fast unmöglich. Ich habe das Gefühl, Vorhersagen zu treffen, für die ich keine Expertise besitze.

Sind all meine Geschichten plötzlich schon abgelaufen, über dem Verfallsdatum?

Und dann stellt sich die Frage: Was spielt gerade überhaupt noch eine Rolle? Die kleine Liebesgeschichte, ein Schuldgefühl, hat das alles angesichts der überwältigenden Situation weltweit überhaupt noch einen Platz? Auch in anderen Zeiten stelle ich mir diese Fragen gelegentlich, wenn Nachrichten über so viel größere Ereignisse mich erwischen. Aber jetzt lässt sich das persönliche Leben so überdeutlich nicht mehr von weltweiten und größeren Ereignissen abtrennen.

 

Die Welt, auf meinen eigenen kleinen Raum begrenzt, ist plötzlich so eng – und gleichzeitig so groß. Permanent setzen wir uns weltweiten Nachrichten aus, die uns alle plötzlich betreffen. Was viele von uns sonst als weit entfernt ansehen, Politik in fremden Ländern beispielsweise, hat plötzlich recht klar erkennbare Auswirkungen.

 

Aber heißt das, wir können jetzt nur noch Texte über Corona und die Einsamkeit schreiben? Sicher sind das Themen, Gefühle, die uns jetzt beschäftigen, die aus uns heraus wollen – aber ist das alles, was ich gerade habe?

 

Oder ist das die Zeit, um meditativ zu schreiben? Gerade treffe ich immer wieder auf Empfehlungen, wie man mit Meditation durch Zeiten der Ängste und Unsicherheiten kommt. Aber ist das wirklich der beste Weg? Sich am Schreibtisch einzuigeln? Alles auszublenden? Wäre da nicht auch im Zweifel Yoga der bessere Weg, um sich zu spüren, zumal in Zeiten, in denen bei einigen die Bewegung ohnehin abgenommen hat?

 

Politisch sein oder werden?

Natürlich ist es absolut jedem selbst überlassen, wie er mit der Situation umgeht, und ich kann mich auf die kleinen Dinge konzentrieren, das was vor mir liegt. Aber bevor ich wahnsinnig werde, weil die Welt nur noch aus dem Bild an der Wand mir gegenüber, meiner Schreibtischunterlage und meinem Glas Saft besteht, will ich da die Zeit nicht lieber nutzen, um mir Gedanken zu machen, wie meine Einstellung zur Welt eigentlich aussieht? Wie steht es um meine politische Haltung? Wie wichtig ist mir meine Privatsphäre? Um wen mache ich mir gerade besonders Sorgen? Was denke ich über Corona in Indonesien oder in Flüchtlingslagern? Oder geht es mir vor allem unmittelbar um meine eigenen Eltern, meine eigene Gesundheit, mein eigenes behindertes Kind? Was ist mit den Auswirkungen auf die Drogenhilfe – für mich ein Thema oder gar nicht?

 

Ich finde, gerade ist die ideale Zeit, sich über die eigene politische Haltung klarzuwerden oder eine zu entwickeln – und auch, darüber zu schreiben. Wie will ich (mit anderen) leben? Wie sollte die Gesellschaft aussehen? Was ist mir wichtig, worauf kann ich leicht verzichten und worauf nicht?

 

Themen für Texte könnten zum Beispiel sein:

 - was ich mir für die Kinder anderer wünsche

 - wie sähe mein ideales Leben aus? Wie sähe meine ideale Gesellschaft aus?

 - was bedeutet Tod für mich?

 - wie sehr fühle ich mich mit den Menschen in anderen Ländern verbunden?

 - wie reagiere ich darauf, dass andere erkennbar für mich entscheiden?

 

Die Texte können erkundend, in Tagebuchform verfasst sein, oder fiktional bearbeitet, zum Stoff einer Geschichte werden – je nachdem, wie es mir jetzt gerade entspricht.

 

Außerdem kann diese Zeit eine sein, in der ich meine eigenen Ängste erkunde. Wovor habe ich Angst? Wovor nicht? Wie sieht meine Angst aus? Kann ich mich mit ihr unterhalten? Wie bewältige ich sie – und wo scheitere ich daran? Woher kommen meine größten Ängste? Wo steht meine Angst im Verhältnis zu meinem Umfeld?

 

Schreiben mit dem Gefühl der Ohnmacht

Oft gibt uns Schreiben ein Gefühl der Kontrolle, ist eine Möglichkeit, unsere Emotionen und Gedanken zu bewältigen. Aber jetzt scheint das alles plötzlich irrelevant. Meine eigenen Entscheidungen und Gefühle scheinen keine Rolle zu spielen in einer Welt, die von einem Virus bestimmt wird, in der vieles alternativlos ist, die Politik in rasendem Tempo über meine privatesten Entscheidungen verfügt, und es sehr viel größere Probleme zu geben scheint als meine persönlichen Empfindungen.

 

Schreiben kann keine Entscheidungen ersetzen, aber ich kann diese Zeit nutzen, um mir Gedanken zu machen, was ich bin, was mir wichtig ist, und welche Entscheidungsmöglichkeiten, die ich sonst nicht zu schätzen weiß, ich nutzen will, wenn ich es (wieder) kann.

Und für was bin ich bereit zu kämpfen - auch wenn andere vielleicht anderer Meinung sind?

Sprich: Aus dieser Krise der „Haltung“ und der Kontrolle über mein eigenes Leben können gerade diese Aspekte gestärkt hervorgehen. Das Schreiben, in dem ich meine Gedanken sammle und forme, kann mir dabei helfen.